Offen gestanden, bin ich eh der Meinung, dass die Österreicher es drauf haben, in vielerlei Hinsicht, gestern wie heute! Dieser junge Mann war mir bisher allerdings total unbekannt, dabei hatte er in seinem Genre sogar eine gewisse Vorreiterrolle inne. Allerdings erst postum. Damals war er auch bekannt als der ‚Anti-Klimt‘. Er gilt heute
als Pionier des österreichischen Expressionismus. Meine Begeisterung gilt heute dem Porträt- und Landschaftsmaler Richard Gerstl.
Wer war er?
Gerstl war der Sohn einer wohlhabenden bürgerlichen Wiener Familie und erblickte im September 1883 in Wien das Licht der Welt. Gescheid wie er war wurde er natürlich auf ein Gymnasium geschickt, weil er aber schon zu dieser Zeit einen eigenen Kopf hatte, durfte er es wegen ‚disziplinärer Schwierigkeiten‘ vorzeitig verlassen. Seine Eltern, insbesondere sein Vater, waren darüber verständlicherweise nicht sehr erbaut. Als der junge Richard dann auch noch offen sein Interesse für die bildende Kunst äußerte, war es mit dem Wohlwollen des Vaters vorbei.
Trotz dieser nicht gerade optimalen Voraussetzungen besuchte Gerstl ab 1898 die Wiener Akademie der bildenden Künste. Auch da hielt er mit seinen radikalen Ansichten nicht hinterm Berg, getoppt durch seine elitäre und egoistische Haltung eckte er auch dort überall an. Er wechselte daher noch ein paar mal die Akademien, so studierte er von 1900–1901 bei Simon Hollósy in Nagybánya / Ungarn (es gab dort neben der Akademie auch eine nicht unbedeutende Künstlerkolonie), kehrte dann aber wieder zurück nach Wien um bei Heinrich Lefler Unterricht zu nehmen.
Der Maler Richard Gerstl war auch sehr an Philosophie und Musik interessiert. Zu seiner Zeit waren in der Wiener Musikszene die Komponisten Gustav Mahler und Arnold Schönberg die angesagten Promis. Gerstl lernte 1906 Arnold Schönberg kennen. Es ergab sich, dass Schönberg ihn beauftragte, seine Familie zu malen. Für den damals gerade mal 23jährigen Künstler sicher eine große Ehre und so bekam er auch Zutritt in den sogenannten ‚Schönberg-Circle‘ – der Wiener Musik High Society.
Er malte nun viele Bilder der Familie und besonders gerne wohl die Schönberg’sche Gattin Mathilde, wahlweise in Gesellschaft, alleine oder auch mit ihrem Töchterchen Gertrud.
Naja, du ahnst es sicher schon: Es kam wie es kommen musste. Die beiden Menschen kamen sich näher als es für eine verheiratete Frau und einen jungen Künstler schicklich gewesen wäre und hatten eine heftige Affäre. Zunächst bekam keiner etwas mit und Gerstl erhielt einige Portraitaufträge aus dem Dunstkreis Arnold Schönbergs. So auch für das Bildnis von Alexander von Zemlinsky, Mathilde war seine Schwester.
Das heimliche Verhältnis blieb allerdings nicht lange geheim: Im Sommer 1908 überraschte Arnold die beiden Turteltauben in flagranti. Nun begann das eigentliche Drama. Für Gerstl war es mehr als eine Affäre und Mathilde eine vorausschauende Frau. Sie entschied sich ‚der Kinder wegen‘ bei Arnold zu bleiben. Sie hat dabei sicher auch an ihren Stand und die dadurch vorhandenen Annehmlichkeiten gedacht. Die wären nach diesem Skandal und mit Richard wohl kaum haltbar gewesen.
Für Richard Gerstl war diese Situation so unerträglich, dass er bereits direkt im Sommer mit Selbstmord drohte, was aber an Mathildes Entscheidung nichts änderte. Verlassen, von enttäuschter Liebe zerfressen, aus dem ‚Schönberg-Circle‘ verstoßen, machte er am 4. November 1908 seine Ankündigung wahr: Er erhängte sich! Vor einem Spiegel, von einem Messer durchbohrt.
Zuvor hatte er allerdings noch zahlreiche persönliche Aufzeichnungen und Gemälde verbrannt. Selbstmord war damals wie heute ein heikles Thema, trotzdem erhielt er ein Ehrengrab auf dem Sieveringer Friedhof.
Wie kam es zum ‚Anti-Klimt‘?
Die Anekdote lautet: Der junge Gerstl wurde von der renommierten Wiener Galerie Miethke zu einer Gruppenausstellung eingeladen, schlug diese jedoch mit der Begründung aus, er wolle unter keinen Umständen gemeinsam mit Gustav Klimt ausstellen.
Gerstl war damals mit seiner Abneigung dem berühmten Wiener Secessionisten Klimt gegenüber keineswegs alleine: Der Schriftsteller und Kritiker Karl Kraus polemisierte schon 1900 in seiner Zeitschrift ‘Die Fackel’ gegen dessen Fakultätsbilder, die Klimt zur Ausschmückung der Decke des Festsaals der Uni Wien angefertigt hatte. Kraus waren die Ornamente zu sexuell aufgeladen, schlichtweg zu plump.
Die Weigerung Gerstls, gemeinsam mit Klimt auszustellen, reiht sich in eine ganze Reihe von Abgrenzungsbezeugungen des jungen Rebellen ein, der beispielsweise ebenso leidenschaftlich gegen seinen liberalen Dozenten und Förderer Heinrich Lefler, Professor an der Wiener Akademie, rebellierte.
Es ist also keineswegs neu, dass sich Künstler gegenseitig anschwärzen, neudeutsch dissen oder gegeneinander ätzen. Gerstl machte gegenüber Klimt kein Hehl aus seiner Abneigung, ganz so wie beispielsweise Art Garfunkel seinen Band-Kollegen Paul Simon einen ‚Idioten mit Napoleon-Komplex‘ nannte oder die Grandseigneurs der bildenden Kunst Michelangelo und Leonardo oder auch William Turner und John Constable aneinander gerieten.
Seine Weigerung zur gemeinsamen Ausstellung mit Klimt ist auch insofern äußerst bemerkenswert, weil er sich damit gleichzeitig selbst ins Aus manövrierte. Denn welcher Künstler nimmt sich schon selbst die Chance, namentlich ausgestellt und dadurch hoffentlich bekannt und anerkannt zu werden?
Gerstl gilt heute als ein Pionier des österreichischen Expressionismus. Er ging zum damaligen Kunstbetrieb in Opposition, lehnte sie regelrecht ab. Ganz besonders die Kunst des Jugendstils und Gustav Klimts konnte und wollte er nicht akzeptieren.
Seine heutige Bedeutung / seine Werke
Aufgrund seines Selbstmordes im Alter von 25 Jahren wurden seine Werke erst in den frühen 1930er Jahren entdeckt, ihre Bedeutung sogar erst nach 1945. Obwohl man ihn mittlerweile in einem Atemzug mit den drei Meistern der Wiener Morderne nennt (Gustav Klimt, Egon Schiele und Oskar Kokoschka), ist er bis heute der unbekannteste Vertreter der großen österreichischen Expressionisten geblieben.
Es gibt keine 100 Gemälde des Künstlers Richard Gerstl. Normalerweise hängen die meisten im Leopold Museum und in der österreichischen Galerie Belvedere in Wien. Das es diese Werke überhaupt noch gibt, ist dem Galeristen Otto Kallir zu verdanken, der sie vor der Vernichtung gerettet hat.
Das obige ‚normalerweise‘ bezieht sich darauf, dass es aktuell eine tolle Retrospektive in der Schirn Kunsthalle Frankfurt gibt. Sie ist die erste ihrer Art zu ihm in Deutschland! Hier werden rund 80 Arbeiten von ihm gezeigt und es wird ganz offensichtlich, dass er Zeit seines kurzen Lebens ein ewig suchender Künstler war. Trotzdem oder gerade deshalb, wer will das schon sagen, hat er vieles vorweggenommen, was sich erst später in der Malerei des Abstrakten Expressionismus der 1950er-Jahre zeigte.
Er bevorzugte das Porträt, daneben Akt- und Landschaftsmalerei. In der Schirn-Ausstellung kannst du neben recht wilden Gruppenbildnissen, Darstellungen von Personen aus seinem engsten Familien- und Freundeskreis sehen. Auch gibt es reichlich Selbstporträts. Darüber hinaus gibt es auch Bilder, die ihn selbst als Akt zeigen. Zu seiner Zeit einzigartig. Laut Ausstellungsinfo gab es dass zu der Zeit nur noch von Albrecht Dürer.
Mein Fazit:
Die Richard Gerstl Retrospektive läuft aktuell in der Schirn neben der Magritte-Ausstellung und muss sich definitiv nicht verstecken! Der Besuch dieser Ausstellung hat meinen Kunsthorizont erweitert und mich einmal mehr darin bestätigt, dass es nicht immer nur die großen Namen sind, die berühren (können).
Ich wünsche dir eine in jeder Hinsicht horizonterweiternde Woche 😉