‚Die Konzentration auf Kunst wirkt auf das Gehirn wie eine Belohnung. So kann ein Tag im Museum sogar heilsam und tröstend sein‘. …und wer belohnt sich nicht gerne? In dieser Form sogar völlig kalorienfrei und trotzdem bereichernd! Solltest du hierzu traumatische Kindheitserinnerungen haben und seither Museen & Co. meiden wie der Teufel das Weihwasser, dann hätte ich hier eine Idee für dich.
So ist es ‚normal‘
Meistens bedeutet ein Museums- oder Ausstellungsbesuch, dass du dir möglichst viele der ‚wichtigen‘ Werke reinziehst. Spätestens nach dem 15 Kunstobjekt machst du allerdings innerlich schlapp und schleppst dich nur noch von Exponat zu Exponat. Schließlich hast du – meist teuren – Eintritt bezahlt und nun willst du auch soviel wie möglich von der Ausstellung des Künstlers XYZ ‚mitnehmen‘. Vielleicht auch allein schon deshalb, damit du beim nächsten Smalltalk damit brillieren kannst 😉
Was wäre wenn?
Wie wäre es, wenn du deinen nächsten Ausstellungs- oder Museumsbesuch mal ein wenig anders gestaltest. Zunächst gehst du mal ganz alleine dort hin! Im Museum oder in der Ausstellung suchst du dir eine Bank und setzt dich drauf. Das Gemälde / Kunstobjekt, welches du von deiner Sitzposition sehen kannst und dich am meisten anspricht betrachtest du jetzt mal eine halbe Stunde lang. Ja, du hast richtig gelesen: volle 30 Minuten, schau auf die Uhr! Okay, für den Anfang kannst du es auch mit 15 Minuten probieren 😉
Jetzt lass dich auf das Bild ein, betrachte es ganz genau und horche in dich hinein, welche Assoziationen, Fragen, Erinnerungen etc. es in dir weckt. Was fällt dir zu der Darstellung ein? Welche Farben / Formen sprechen dich in dem Bild besonders an? Welche eher nicht? Welche Gefühle kommen in dir hoch?
Ich gebe zu, die Idee ist nicht von mir. Der Unternehmer Phil Terry hatte diese vor 10 Jahren und testete sie in einem Selbstversuch im Jewish Museum in New York. Er ging wie oben beschrieben vor (allerdings hat er volle 60 Minuten für ein Bild vorgesehen!) und schaute sich so zwei bis drei Werke äußerst intensiv an. Sein Fazit damals: Er hatte das Gefühl, die Ausstellung viel intensiver wahrgenommen zu haben, sozusagen wirklich ‚erlebt‘ zu haben und war von einer inneren Ruhe und Zufriedenheit erfüllt, die er als Unternehmer nicht allzu oft empfand
Er entwickelte daraus das Konzept ‚Slow Art Day‘, kreierte eine Homepage. Mittlerweile wird dieser Tag jährlich von über 200 Museen weltweit begangen, u.a. in Brüssel, Barcelona, Paris und Boston. Mittlerweile gibt es auch ein paar deutsche Kunsthäuser die diesen speziellen Tag zelebrieren. Schau doch mal, ob ‘dein’ Museum auch dabei ist.
Das Konzept ist simple: Allein oder in einer kleinen Gruppe setzt man sich innerhalb einer Stunde vor nur vier, fünf Bilder, betrachtet sie eingehend und ohne Vorinformation. Anschließend tauscht man sich mit den anderen über das, was man erlebt hat, aus.
„Wenn wir uns für Kunst Zeit nehmen, machen wir ganz andere Entdeckungen”
(Phil Terry)
Wenn du so vorgehst, achtest du noch mehr auf die Details oder darauf, welche Gefühle das Bild in dir auslöst. Wenn du jetzt denkst…‘ach, ich habe ja keine Ahnung von Kunst und daher ist das sowieso nichts für mich‘ …vergiss es. Laut Phil Terry brauchen wir hierfür keine Vorbildung. Er ist davon überzeugt, dass man durch den ruhigen Blick nicht nur den Museumsbesuch mehr genießen kann, sondern nach und nach auch größeres Vertrauen in das eigene ästhetische Empfinden gewinnt.
Schau hin und staune
Also, auch wenn ‘dein’ Kunsthaus bis jetzt noch nicht bei dem sowieso nur einmal im Jahr offiziell stattfindenden Slow Art Day mitmacht, musst du ja nicht darauf verzichten.
Es lohnt sich auf jeden Fall, Kunst mit mehr Zeit, Sorgfalt und geleitet von deiner Intuition zu betrachten.
Erste Schritte auf dem für dich noch ungewohnten Terrain zeigt dir das Konzept ‚Visual Thinking‘. Es wurde von Shari Tishman von der Harvard Graduate School of Education entwickelt. Tishman ist Erziehungswissenschaftlerin und hat verschiedene neue Möglichkeiten gefunden, mit denen wir Bildbände, Gemälde oder Schautafeln betrachten können. Eine einfache Methode nennt sich ‚See, Think, Wonder‘. Was soviel heißt wie: Wenn du vor einem Gemälde oder einer Skulptur stehst, schau dir das Bild zunächst einfach nur an und lass das, was du siehst, ohne Bewertung wirken. Du kannst dir zum Beispiel innerlich sagen: ‚Ich sehe dicke schwarze Linien, blaue Striche, sich bewegende Gestalten, Kleckse, zwei verschiedene Schuhe…‘
Nach dieser reinen Aufzählung der Fakten, kannst du versuchen zu ergründen, welche Fragen und Emotionen das Werk in dir auslöst. Also z.B.: ‚Was hat es mit der Figur da auf sich? Gleicht sie einem Vogel oder einer Frau? Warum trägt sie zwei verschiedene Schuhe? Was könnte der Künstler empfunden haben, als er das Gemälde schuf?‘ Die Antworten, die jetzt in dir hochkommen, kannst du erneut auf dich wirken lassen und staune über dich selbst, welche eigenen Gefühle und Erkenntnisse dadurch auftauchen.
Ist schon klar, dass nicht jedes Bild ein Aha-Erlebnis in dir auslösen wird. Mit ‚Staunen‘ ist hier u.a. auch gemeint, dass du zulässt, welche Wirkung bis hin zu Verblüffung eine bestimmte Farbe bei dir auslösen kann. Es sei auch ganz wichtig, dass du die meistens am Bild angebrachten Informationstäfelchen erst hinterher liest! Dies gilt natürlich auch für die oft schon verfügbaren Audioguides: erst schauen & staunen, dann reinhören! Sonst beeinflusst du deine Wahrnehmung automatisch durch die harten Fakten 😉
Die größte Wirkung erzielst du eben, wenn du dich nur darauf konzentrierst, was du gerade vor Augen hast. Dadurch erfährst du wirklich ganz persönliche Eindrücke und erhöhst die Wahrscheinlichkeit, dass Museum inspiriert und beschwingt zu verlassen!
Kunst kann auch heilen
Eingangs hatte ich mal so salopp dahin geschrieben, das Kunst auch heilsam sein kann. Tatsächlich berichten sogenannte Slow-Art-Fans, darunter auch bereits erwähnter Phil Terry, dass ein Tag im Museum sogar heilsam und tröstend sein kann. Und das ist keineswegs ein rein subjektiver Eindruck. Solche Aussagen rufen natürlich immer gleich ein paar ambitionierte Wissenschaftler an den Start und in diesem Fall hat ein Team von Neuropsychologen vor einigen Jahren nachweisen können, dass körperlicher Schmerz abnimmt, wenn sich Menschen längere Zeit Bilder anschauen, die sie sehr ästhetisch oder künstlerisch interessant finden. Die Konzentration auf Kunst wirkt auf das Gehirn wie eine Art Belohnung – so stark, dass Schmerzzentren im Großhirn weniger aktiv sind. Vielleicht solltest du beim nächsten Kopfschmerzanfall nicht zur Tablette greifen, sondern zum Eintrittsticket fürs Museum, denn hier kannst du dich und deinen Schmerz regelrecht entspannen – und die Zeit genießen.
Falls du es also demnächst auch mal ausprobieren willst, nachstehend eine Art To-Do-Liste für deinen nächsten Kunstbesuch.
- Versuche, eine Ausstellung während der ruhigeren Stunden zu besuchen, etwa am Vormittag oder am späten Nachmittag. Man braucht auch nicht gleich einen ganzen Tag zu investieren, eine Stunde reicht schon.
- Wenn du einen Saal betrittst, suche dir spontan ein Werk, das dich anspricht oder interessiert.
- Betrachte die Form, Farben, Figuren, Details. Lass Fragen in dir hochkommen.
- Mach dir Notizen, wenn du willst oder nimm gleich ein Skizzenbuch mit.
- Gönne dir nach deinen eigenen Betrachtungen den Audioguide zur jeweiligen Ausstellung – sofern vorhanden.
- Betrachte das Werk aus verschiedenen Perspektiven oder gehe – sofern möglich – darum herum.
- Nach dem Besuch: überlege, an was du dich erinnern kannst. Was beschäftigt dich nachhaltig?
…und natürlich funktioniert das Ganze auch in einem Museum gleich bei dir um die Ecke…
Lass dich ein, verblüffe dich selbst und entspanne dich und deine grauen Zellen!
PS: … wie immer freue ich mich auch diesmal über einen Kommentar von dir, gerne über diesen Weg.