Malweiber – so nannte man recht abfällig Frauen, die um 1900 herum mit Staffelei, Pinsel und Farbpalette direkt in der Natur malten. Sie hatten keine Chance zu einem offiziellen Kunststudium zugelassen zu werden. Sie suchten sich daher Möglichkeiten zu privatem Unterricht und besuchten sogenannte Malschulen. Solche Malschulen entstanden in unmittelbarer Nachbarschaft zu den wissenschaftlichen Kunstakademien – deren Besuch damals den Herren der Schöpfung vorbehalten war – zum Beispiel in München, Berlin und Paris.
Unter den damaligen Malweibern war u.a. auch der ‘Rembrandt Russlands’:
Marianne von Werefkin … ein bewegtes Leben für die Liebe und die Kunst!
Sie wurde 1860 in Tula als Tochter einer Malerin und eines russischen Adeligen geboren. Ihre Mutter Ikonenmalerin und ihr Herr Papa ein hohes Tier beim russischen Militär, zuletzt war er Kommandant der berühmten Peter-und-Paul-Festung in Sankt Petersburg.
Als Marianne 14 Jahre alt war, erkannte man ihr zeichnerisches Talent und sie erhielt umgehend fundierten Zeichenunterricht…nicht unüblich für Töchter in Adelskreisen, es gehörte damals zum guten Ton. Aber sie bekam sogar ein eigenes Atelier in obiger Festung in Sankt Petersburg und gar ein richtiges Atelierhaus auf dem familieneigenen ‚Landgut Blagodat‘. Später sollte sie sagen, dass hier ihre ‚eigentliche Heimat‘ sei.
Ilja Repin, der wichtigste Vertreter der Wandermaler, sie prägten den russischen Realismus, wurde 1880 ihr Lehrer und zeitweilig auch ihr Liebhaber. Sie war eine von seinen zwei Privatschülern, was man durchaus schon als Auszeichnung ansehen kann. Von Repin stammt auch der Ausspruch über ihre Malkunst ‚Russischer Rembrandt‘. Marianne bekam über Repin rasch Kontakt zur Künstlerkolonie Abramzewo. Ab 1883 studierte sie in Moskau Malerei und ging zu Philosophievorlesungen.
Als sie 28 Jahre alt war, durchschoss sie sich auf einer Jagd versehentlich selber die rechte Hand! Für eine Malerin ein ganz besonderes Drama. Jahrelang litt sie unter starken Schmerzen und Beeinträchtigungen, gerade beim Malen. Trotzdem hat sie in dieser Zeit ihre ersten bedeutenden Werke in der realistischen Malerei des Zarenreiches erschaffen und galt als ‚Russischer Rembrandt‘ mit großer Anerkennung nicht nur in der russischen Kunstszene.
Ab 1890 wechselte sie ihren Malstil, begann mit Freilichtmalerei. So um 1892 lernte sie im Atelier von Repin den jüngeren, mittellosen Offizier Alexej Jawlensky kennen und das Schicksal von Marianne von Werefkin nahm seinen Lauf.
Die Beziehung zu ihm sollte insgesamt 27 Jahre andauern und stand wohl irgendwie von Anfang an unter keinem guten Stern. Also Marianne sah ihn, verliebte sich in ihn und beschloss von nun an den noch unbekannten Jawlensky auszubilden und zu fördern. Als 1896 ihr Vater starb, erbte sie eine gut dotierte zaristische Rente, war also finanziell unabhängig, nicht gerade üblich unter den damaligen Malweibern.
Zu der Zeit war unter den Künstlern München schwer angesagt und so zog sie mit Jawlensky, dem Dienstmädchen Helene und jede Menge Volkskunst-Möbeln nach Schwabingen. Dort mietete sie eine große Doppelwohnung, ergänzte die russischen Volkskunst-Möbel mit Mobiliar im Empirestil und Biedermeier: fertig war das Ambiente für ihren berühmten ‚rosafarbenen Salon‘. Dieser Salon gilt heute als Keimzelle der Neuen Künstlervereinigung München (N.K.V.M) und des Blauen Reiters.
In München widmete sie sich intensiv der Ausbildung und Förderung von Jawlensky, unterbrach sogar ihre eigenen Malaktivitäten. Verschiedene Quellen sprechen von insgesamt 8 – 10 Jahren! Sie machte es wie viele Frauen in der Kunst, ordnete ihre künstlerischen Ambitionen –sie hatte damals bereits einige Ausstellungen gehabt – ganz den Interessen ihres Geliebten unter. Wobei, ob Jawlensky jemals wirklich ihr Geliebter war, ist bis heute nicht bewiesen. Was bewiesen ist: Jawlensky war ein Schürzenjäger! Marianne wusste dies von Anfang an, so sagte sie einmal: »Die Liebe ist eine gefährliche Sache, besonders in den Händen Jawlenskys.«
Sie war definitiv in ihn verliebt, trotzdem lehnte sie eine Heirat ab, wohl auch wegen der großzügigen Zarenrente, die sie von ihrem Vater geerbt hatte und auf die sie als verheiratete Frau keinen Anspruch mehr gehabt hätte. Marianne von Werefkin war schon immer eine starke Persönlichkeit, was sich auch ein wenig in ihrer Optik spiegelte: eine ausgesprochene Schönheit war sie nie, aber die Mischung aus Talent und Geld machte sie schon früh für die damalige Männerwelt interessant. Aber sie hatte es sich nun mal in den Kopf gesetzt, Alexej als Künstler in jeder Hinsicht zu fördern. Frauen galten damals als ‚schwache Weiber‘, daher sollte er an ihrer Stelle künstlerisch all das erreichen und verwirklichen, was ihr ja ohnehin verwehrt sei.
»Drei Jahre vergingen in unermüdlicher Pflege seines Verstandes und seines Herzens. Alles, alles, was er von mir erhielt, gab ich vor zu nehmen – alles, was ich in ihn hineinlegte, gab ich vor, als Geschenk zu empfangen … damit er nicht als Künstler eifersüchtig sein sollte, verbarg ich vor ihm meine Kunst.« (Werefkin, zitiert nach Fäthke 1980:17)
Jawlensky war dankbar und zeigte es ihr, indem er mit der kleinen Helene, Dienstmädchen und Gehilfin von Mariannes Zofe, anbandelte. Und nicht zu vergessen, die Zofe: mit ihr hatte er zuvor auch schon ein Verhältnis.
1897 besuchten Marianne und Jawlensky gemeinsam mit anderen russischen Künstlern in Venedig eine Repin-Ausstellung. Das Ganze verbanden sie mit einer Studienreise durch verschiedene oberitalienische Museen
Es kam wie es kommen musste: 1902 bekam Helene ein Kind von Jawlensky, Söhnchen Andreas. Marianne finanzierte nun auch diese Kleinfamilie, die nach außen natürlich nicht so gelebt wurde, aber alle im Umkreis von Marianne und Alexej wussten darüber Bescheid.
Marianne begann nun ihre Lettres à un Inconnu (Briefe an einen Unbekannten) als eine Art Tagebuch zu schreiben und beendete diese 1906. In diesem Jahr unternahmen sie, Jawlensky, Helene und Sohn Andreas, eine Reise nach Frankreich. Am Mittelmeer in der Nähe von Marseille wohnte ihr Malerfreund Pierre-Paul Girieud, dort begann Marianne von Werefkin endlich wieder zu malen.
Bereits 1907 entstanden ihre ersten expressionistischen Gemälde. Stilistisch ließ sie sich u.a. von Vincent van Gogh, Paul Gauguin und Henri de Toulouse-Lautrec inspirieren. In München erhielt sie im befreundeten Künstlerkreis den Beinamen ‚Die Französin‘. Auch Werke von Edvard Munch setzte sie motivisch um und neu ins Bild, lange bevor dies so namhafte Künstler wie Kandinsky oder Münter taten.
Im Sommer 1908 trafen sich die Künstlerpaare Werefkin/Jawlensky und Münter/Kandinsky in Murnau am Staffelsee zum gemeinsamen Malen. Ein sehr bekanntes Bild von Gabriele Münter zeigt Marianne und Alexej auf einer Wiese am Staffelsee. Es folgten im Zeitablauf viele Künstlertreffen und gemeinsame Ausstellungen, der N.K.V.M. wurde gegründet.
1913 wollte Marianne von Werefkin sich endlich von Jawlensky trennen, aber so weit kam es (noch) nicht. Als im August 1914 der Erste Weltkrieg ausbrach, mussten sie und Jawlensky – samt Kleinfamilie – Deutschland innerhalb von 24 Stunden verlassen. Sie zogen in die Schweiz. Zunächst wohnten sie am Genfer See. Werefkins Pension wurde als Kriegsfolge um die Hälfte gekürzt. Im Jahr 1916 hatte sie eine Einzelausstellung in Zürich, wohin das Paar samt Anhang im Herbst 1917 übersiedelte.
Aufgrund der russischen Oktoberrevolution verlor Werefkin ihre komplette zaristische Pension. Nun begannen für sie und Jawlensky ungewohnte Zeiten: sie hatten kaum bis kein Geld. Sie zogen 1918 gemeinsam von Zürich nach Ascona am Lago Maggiore. Sie hatte noch einige Ausstellungen in der Schweiz und in Italien und konnte einige Bilder verkaufen.
1921 trennte sich nun Jawlensky von Marianne und zog nach Wiesbaden, wo er 1922 Helene, Werefkins Haushälterin und die Mutter seines Sohnes Andreas, heiratete.
Ohne Zarenpension stets knapp bei Kasse, verdiente sich Marianne ihren Lebensunterhalt auch mit dem Malen von Plakaten und Bildpostkarten. Auch schrieb sie Artikel, beispielsweise 1925 für die Neue Züricher Zeitung, woraufhin ihre Eindrücke einer Reise nach Italien dort abgedruckt wurden.
1928 schrieb und malte Werefkin ihre Ascona Impressionen. Im selben Jahr lernte sie Diego Hagmann und seine Frau Carmen kennen, die sie fortan immer wieder vor größerer wirtschaftlicher Not bewahrten.
Bereits in den letzten zwei Jahren vor dem Ersten Weltkrieg konnte man in München stilistische Veränderungen in ihren Bildern bemerken, entwickelte sie diese in der Schweiz weiter. Ihre Bilder lösten früher oft ‚plötzliche Schocks‘ beim Betrachter aus, was jetzt nicht mehr der Fall war. Ihre Werke wurden generell erzählerischer und noch hintergründiger als zuvor. Besondere Schriftsteller wurden von ihnen angezogen.
Die typisch russischen Merkmale in ihrer Malerei, besonders in der Farbgebung, die schon in München der Dichterin Else Lasker-Schüler aufgefallen waren, sind in ihrem Alterswerk in Ascona besonders deutlich sichtbar. Sie malte zwar jetzt Tessiner Motive, aber trotzdem waren Mariannes Bilder den meisten Schweizern zunächst fremd und wurden oftmals missverstanden.
Marianne von Werefkin starb am 6. Februar 1938 in Ascona. Sie wurde fast 78 Jahre alt. Durch ihre bis ins hohe Alter stattliche und unkonventionelle Erscheinung – sie trug stets eine Art Turban und viele lange bunte Ketten – sowie durch ihre offene Art, war sie in Ascona eine bekannte und geschätzte Persönlichkeit. Sie wurde unter großer Anteilnahme fast der gesamten Bevölkerung nach russisch-orthodoxem Ritus auf dem dortigen Friedhof beerdigt. Auf ihrem Grabstein steht weder ihr Name noch Jahreszahlen, ganz wie sie es wollte.
Ich muss schon sagen: ein sehr bewegtes Leben hatte Marianne, vielleicht trotz oder gerade wegen ihrer glücklosen Liebe zu Alexej. Vom Malweib ist sie zu einer großen russischen Malerin geworden. Allerdings gibt es bis heute nur vereinzelt Werke von ihr in deutschen Museen.
Wenn du dir einen Eindruck von ihrem großen Können machen willst, musst du schon nach Ascona reisen. Der größte Teil ihres malerischen und literarischen Nachlasses wird in der Fondazione Marianne Werefkin in Ascona aufbewahrt. Auch durch Schenkungen befinden sich dort heute fast 100 Gemälde von ihr. Darüber hinaus gibt es zahlreiche Skizzenbücher und Hunderte von Zeichnungen. Ein Teil davon wird in der ständigen Sammlung des Museo communale d’arte moderna in Ascona präsentiert.
Gemalte Grüße